Es kommt nicht so oft vor, dass wir uns in einem klassischen Museum gegenseitig von den Exponaten wegziehen müssen, weil man hier schalten, da drehen oder dort „wie früher!“ spielen kann. Wenn uns die Geschichte von Objekten zum Staunen, Erinnern und Ausprobieren bringt, wird der sperrige Begriff „Industriekultur“ plötzlich quicklebendig.

Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was ein fancy Bistro-Hocker, eine Ampel und ein Telefon gemeinsam haben, und wieso uns das bewegt? Dann kommt mit uns ins Industriemuseum Chemnitz, in die diesjährige europäische Kulturhauptstadt.

Industriemuseum Chemnitz

Schon beim Kauf der Tickets im Museumsshop schielen wir nach nebenan: im ehemaligen, aufwändig sanierten Maschinenhaus steht „die“ Dampfmaschine von 1896, ein raumfüllendes Wunderwerk mit 8 Metern Länge und einem immensen Schwungrad. Zweimal im Monat wird sie an zwei Tagen jeweils um 11, 13 und 15 Uhr für eine halbe Stunde in Gang gesetzt – das haben wir heute aber leider verpasst! Ab geht es also direkt in Richtung der Dauerausstellung. 

Eine Halle voller Geschichten

Die Dauerausstellung des Museums findet Ihr in der beeindruckenden Maschinenhalle des Gebäudekomplexes vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir brauchen einen Moment, um uns zu orientieren – der Raum ist riesig, mit großen Oberlichtern und offener Dachkonstruktion. Hier findet Ihr Beispiele aus 220 Jahren Industriegeschichte, und zwar alle aus Sachsen! Dabei gibt es keine strenge Chronologie, sondern einzelne Themenfelder, zum Beispiel „Hell und Dunkel“ (da geht es um den Bergbau), „Mensch und Maschine“ (von ersten manuellen Rechenmaschinen bis zu den Rohstoffen, die in unseren Handys verbaut werden) oder „Innen und Außen“ (hochspannend! über die Veränderungen im Familienleben durch den technischen Fortschritt). 

Industriemuseum Chemnitz
Hausansicht, Industriemuseum Chemnitz

Hier ist Anfassen Programm

Auf einem gezackten, silbernen Band, was wie ein Pfeil durch die ganze Halle verläuft, finden wir Highlights der sächsischen Industriegeschichte: ein Diamant-Fahrrad, Autos, Motorräder, Baggerschaufeln, Spinnmaschinen. Und oft entfährt uns ein „ohh das kenn ich doch von zu Hause!“ Oder: da ist doch dieser tolle Hocker, den alle an ihren Bartresen haben wollen – der wurde 1930 entworfen, in Chemnitz? Wir steuern eine Ampelschaltung an einer Kreuzung, lesen in kleinen Kabinetten über Kindergärten in der DDR, betrachten die ersten Computer, spielen „Poly Play“ und beobachten, wie viele Rädchen und Hebelchen sich bewegen, wenn wir uns gegenseitig mit zwei historischen Telefonen anrufen.

Industriemuseum Chemnitz
Industriemuseum Chemnitz
Industriemuseum Chemnitz

Extra-Touren für den Erfinder-Nachwuchs

Apropos ausprobieren: für Kinder ist diese Ausstellung der Hit, neben den vielen zu bestaunenden Exponaten gibt es eine Tour mit Stationen, die für Kinder besonders geeignet sind (das Begleitheft dazu bekommt Ihr an der Kasse). Nebenbei: die Kids können hier sogar Geburtstag feiern …

Regelmäßig unter Dampf

Beim Rausgehen planen wir also schon den nächsten Besuch mit der ganzen Familie. Leider hat das Museums-Restaurant schon zu (vormerken für das nächste Mal), also stoppen wir nur noch einmal bei der Dampfmaschine und bekräftigen, dass wir die unbedingt in Aktion sehen wollen. Und dann geht es ab nach Hause!

Modell eines Stirlingmotors (1994) von Jens Ziegler, Industriemuseum Chemnitz
Modell eines Stirlingmotors (1994) von Jens Ziegler, Industriemuseum Chemnitz

Aktuell: die Magie des Zufalls

Aktuell findet Ihr übrigens in der Rasmussen-Halle des Museums die Sonderausstellung „John Cage. Museumcircle“. Diese ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: sie beruht auf einer Partitur des amerikanischen Komponisten und Konzeptkünstlers John Cage. Diese Partitur beinhaltet, dass mehrere Museen einer Stadt – in diesem Fall Chemnitz und das Chemnitzer Umland – zufällig Exponate für eine gemeinsame Ausstellung auswählen. Die Exponate werden dann ebenfalls zufällig im Ausstellungsraum angeordnet. Was diese Art des „Loslassens“ für die Kuratoren bedeutet haben muss, können wir nur erahnen! Herausgekommen ist dabei jedenfalls ein unglaublicher Querschnitt an Artefakten, die die Vielfalt und Geschichte der Region illustrieren, und die im Raum ganz neue – eben zufällige – Beziehungen bilden. Diese Ausstellung ist noch bis zum 18.05.2025 zu sehen, es lohnt sich!

Fazit

Für einen Überblick über unsere – ja, gesellschaftliche Entwicklung innerhalb der letzten 220 Jahre: detailreich, überraschend, alltagsnah, berührend, bunt. Wer sich noch nie mit dem Thema „Industriekultur“ beschäftigt hat, findet hier einen easy Einstieg durch die atmosphärische Präsentation, Nerds sind von der Informationstiefe begeistert. Die Angebote für Kinder (freier Eintritt bis 18 Jahre) machen aus diesem Museum einen besonders attraktiven Ort für Familien. 

In der Ausstellung, Industriemuseum Chemnitz

Facts

Industriemuseum Chemnitz: Regulärer Eintritt 9,- €, ermäßigt 7,- €, Kinder bis 18 Jahre haben freien Eintritt. Viele Museumspädagogische Angebote, Führungen etc. Restaurant nur bis 15:30 Uhr. Straßenbahn- und Bushaltestelle direkt am Museum. Großer Parkplatz, barrierefreier Zugang zu allen Bereichen.